Rezensionen - Sven Hanuschek
 

Renzensionen - Sven Hanuschek

Das Klima hier ist wirklich grauenhaft: Hildesheimer und München – Spurensuche zum 100. Geburtstag

 05.01.2017 |  Sven Hanuschek

Wolfgang Hildesheimer war durch »Mozart« (1977) und die »Lieblosen Legenden« (1952) nie in Gefahr, vergessen zu werden; sein wichtigstes Werk ist vielleicht der Prosamonolog »Tynset« (1965), in dem ein schlafloser Reflekteur über Deutschland in der Nacht nachdenkt. Seine künstlerische Unbedingtheit und Konsequenz hat das Werk haltbar gemacht, auch scheinbar paradoxe Formulierungen wie die von der Kunst, die »der Erfindung der Wahrheit« diene. Die beste Einstiegsdroge ist »Mitteilungen an Max« (1983), ein Buch, in dem Komik, Depression und Sprachspiele eine einzigartige Synthese eingegangen sind.

Zu seinem 100. Geburtstag am 9. Dezember ist eine Reihe von Büchern erschienen, die sich ideal ergänzen. Volker Jehle hat die »Briefe an die Eltern« von 1937 bis 1962 herausgegeben: Mehr als 1500 Seiten voller politischer, persönlicher, künstlerischer Angelegenheiten. Wir können die frühen Jahre Hildesheimers in England und in Palästina verfolgen, als bildender Künstler, Schreiner, Inhaber einer Werbeagentur, die ersten Publikationen. Anfang 1947 ist er für die Nürnberger Prozesse als Simultandolmetscher der britischen Armee nach Deutschland zurückgekehrt, war Redakteur der Protokolle. Danach blieb er – zuerst in Ambach und München, hier begann seine schriftstellerische Karriere.

Ein »furchtbare[s] Volk von Bürokraten, Spiessern und verrannten Ethikern«

Stefan Braese hat die erste Hildesheimer-Biografie geschrieben; er betont vor allem die Bedeutung, die Hildesheimers Judentum und die unfreiwillig weltläufigen frühen Jahre für seine originelle und ganz unabhängige Position im Nachkriegsdeutschland hatten. Obwohl er allein durch die Dolmetscher-Jahre mehr über den Massenmord an den europäischen Juden wusste als seine Freunde aus der Gruppe 47 zusammen, schrieb er Satiren über den Kulturbetrieb; als sich die Kollegen einrichteten in den sechziger Jahren, hatte er das Land wieder verlassen und arbeitete an »Tynset«. Der Münchner und Ambacher Freundeskreis hielt Hildesheimer in Deutschland, das Gefühl »that I am wanted« – trotz aller Vorbehalte gegenüber einem »furchtbare[n] Volk von Bürokraten, Spiessern und verrannten Ethikern«.

Sein erstes Atelier in Ambach (Seeleitn 65) war im Winter so kalt, dass er nicht malen konnte, am Ofen war es zu dunkel, aber hell genug, um die erste Geschichte zu schreiben. Beim Schreiben ist er mit kleinen Unterbrechungen geblieben, 1984 wurde er wieder zum bildenden Künstler. Er war mit vielen Künstlern vor Ort befreundet, schrieb Glossen gegen die problematischen Figuren der NS-Vergangenheit, die »Neue Zeitung« druckte seine ersten Geschichten, er hatte Besuch von arabischen Freunden ebenso wie von Patricia Highsmith. Auch seine Frau Silvia lernte er hier kennen, 1953 zogen sie mit deren Töchtern aus erster Ehe nach München, zuerst in die Widenmayerstraße 51, dann über die Isar an
den Kufsteiner Platz 4.

Er las in diesen Jahren zweimal im Tukan-Kreis, und er versäumte kein Konzert der »musica viva«

Den Briefen ist eine Fülle von vergnügten wie gereizten MünchenUrteilen zu entnehmen. Über die Frauenkirche schrieb Hildesheimer, ihr Vorderbau mit den Türmen sei »das abschreckendste, was es im Kirchenbau überhaupt gibt«. Er genoss den Hofgarten unter blühenden Bäumen, bemerkte, die Stadt entwickle sich zu einem internationalen Kunstzentrum; er war als Maler lose mit der ZEN-Gruppe abstrakter Maler assoziiert. Von einer Molière-Inszenierung in den Kammerspielen 1951 schreibt er, er habe sich »fast buchstäblich krankgelacht. Meine Begleiterin musste mir ein Taschentuch in den Mund stopfen.«

Er traf sich in der Stadt mit Adorno und dem Lektor Friedrich Podszus zum Essen und scherzte über Wammerl, »streng koscher, vom Oberrabbinat selbst für Minderjährige zugelassen«. Mit den Münchnern sei während der Oktoberfestzeit nichts anzufangen; sein eigener Besuch dort war »a Mordsgaudi«, mit dem besten Backhendl, das er je gegessen habe. Er las in diesen Jahren zweimal im Tukan-Kreis, und er versäumte kein Konzert der »musica viva«. Mit dem damaligen Leiter Karl Amadeus Hartmann war er befreundet, die Briefe fließen über von Namen aus dem Musikleben der frühen fünfziger Jahre – er trifft Carl Orff, Bruno Maderna, Luigi Nono, hört Strawinsky, Honegger, Milhaud, Hindemith, you name them …

Aus den Plänen zum Giftpilz-Kochbuch, »Giftpilze und ihre Zubereitung«, ist nichts geworden

Hildesheimer lesen ist ein Erlebnis, weil er einer der wenigen Autoren ist, die keine spezielle Fachidiotie ausgebildet haben – seine Menschlichkeit, sein Witz, sein Repertoire quer durch die Künste sind immer da. In den Münchner Jahren kann man ihm sozusagen beim Wachsen des Repertoires zusehen, nach den »Lieblosen Legenden« schreibt er seinen Fälscherroman »Das Paradies der falschen Vögel«, die ersten Hörspiele und Theaterstücke, zuerst Lustspiele, später die absurden Stücke, deren bedeutendster deutschsprachiger Vertreter er ist, eine Funkoper mit Hans Werner Henze. Aus den Plänen zum Verfassen eines Giftpilz-Kochbuchs, »Giftpilze und ihre Zubereitung«, ist nichts geworden, trotz des schönen Untertitels: »Wie erspare ich mir das Altern, das Diät-Halten und den lästigen Verkehr mit meinem Nächsten.«

1957 verlassen die Hildesheimers München wegen des Antisemitismus oder wegen des Klimas, das »wirklich grauenhaft« sei, »man wundert sich beinahe, dass man es so lange darin ausgehalten hat«. In Poschiavo (Graubünden), kurz vor der italienischen Grenze, hat er seine bekanntesten Werke geschrieben, mit gelegentlichen kurzen Besuchen in Ambach und München, zuletzt hat er 1987 im Audimax der LMU einen Vortrag über Watteaus »Gilles« gehalten. 1991 ist er in Poschiavo gestorben; des hätt’s fei net braucht.

 

Diese Rezension wurde uns freundlicherweise vom Münchner Feuilleton zur Verfügung gestellt.

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Diese Buchbesprechung hat uns freundlicherweise vom Münchner Feuilleton zur Verfügung gestellt.

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